
01 Jul Das Triemlispital liegt auf der Intensivstation
Die Finanzsituation an den Zürcher Stadtspitälern hat sich dramatisch verschlechtert. Viel zu lange handelte der Stadtrat nach dem Prinzip Hoffnung. Nun spricht er von einem Schuldenschnitt von einer halben Milliarde Franken.
Vor zwei Jahren versprüht der Stadtrat noch Zuversicht: Die beiden Stadtspitäler Triemli und Waid hätten sehr gut auf die neue Spitalfinanzierung reagiert. Trotz der Inbetriebnahme des neuen Bettenhauses «rechnet der Stadtrat auch in den kommenden Jahren mit einem Kostendeckungsgrad von nahezu 100 Prozent». Das antwortet die Exekutive im September 2015 auf eine Interpellation, die sich nach den finanziellen Risiken für die Stadt erkundigt. Diese seien «gering und vorhersehbar bzw. budgetierbar», schreibt der Stadtrat.
Und es geht freudig weiter: denn am 8. März 2016 kann endlich das neue Bettenhaus eingeweiht werden. Gesundheitsvorsteherin Claudia Nielsen (sp.) und die Spitalführung wiederholen an jenem kalten Morgen gebetsmühlenartig den Slogan vom «modernsten Bettenhaus der Schweiz». Die PR-Abteilung hat ganze Arbeit geleistet. Kein Wort davon, in welche finanziellen Turbulenzen dieses blau schimmernde Juwel das Spital noch stürzen wird. Im Interview mit der NZZ sagt die Stadträtin, dass «wir dank den neuen Strukturen effizienter arbeiten und so Kosten sparen können».
Drei Monate später ist die Euphorie jedoch verflogen. Schon in der Rechnung 2015 stehen rote Zahlen – und das ist erst der Anfang. Für 2016 sieht es weit schlechter aus, als der Stadtrat erwartet hat. Im Trimesterbericht kündigt er Sofortmassnahmen zur Kostenreduktion an. Mittel für neue Stellen sollen bis auf weiteres nicht mehr gesprochen werden. Ende Jahr resultiert trotzdem ein Defizit in der Höhe von 27,4 Millionen Franken. Für das laufende Jahr sieht es ähnlich düster aus. Im jüngsten Trimesterbericht hat der Stadtrat die ohnehin schon negativen Zahlen nochmals nach unten korrigieren müssen. Er rechnet nun mit einem Minus von rund 30 Millionen. Und die Zukunftsaussichten sind nicht viel besser. Bei stagnierendem Ertrag rechnet die Exekutive für die kommenden Jahre jeweils mit einem Defizit von 25 bis 30 Millionen.
Mittlerweile spricht die Stadt gar offiziell von einem Schuldenschnitt. Auf Anfrage der NZZ nennt Stadträtin Nielsen auch konkrete Zahlen: Bei den heutigen Schulden müsse der Schuldenschnitt für beide Stadtspitäler rund 500 Millionen Franken betragen (siehe dazu Artikel unten). Wie konnte es so weit kommen?
Erstes Projekt abgelehnt
Um zu verstehen, was passiert ist, muss man ein paar Jahre zurückblicken. Anfang und Mitte des letzten Jahrhunderts herrschte ein grosser Mangel an Spitalbetten. Die Stadt eröffnete deshalb 1956 zunächst das Waidspital und 1970 das Triemli für die Bevölkerung links der Limmat. Böse Zungen sprachen auch von einem «Arme-Leute-Spital». Mitte der 1990er Jahre zeichnete sich ab, dass die Anlage sanierungsbedürftig wird. Die Planung begann, am Ende sollten auf dem Areal rund 750 Millionen Franken investiert werden.
Das Zeug zum Aushängeschild hatte das neue Bettenhaus. Es war die Chance für Zürich, dem Kanton mit seinem Universitätsspital endlich die Stirn zu bieten. Es gehört zum Selbstverständnis der Stadt, im Konzert der Grossen mitspielen zu wollen. Also plante man gross. Zu gross zunächst für den Kanton, der die Hälfte bezahlen musste. Die damalige Gesundheitsdirektorin Verena Diener wies das Projekt zurück. Schliesslich entschied sich die Stadt für ein 17-geschossiges Gebäude, das 290 Millionen kosten sollte. Widerstand blieb aus, das alte Bettenhaus musste dringend ersetzt werden. Der Gemeinderat winkte den Kredit ohne Gegenstimme durch, die NZZ fasste eine Ja-Parole, und die Stimmberechtigten sagten im November 2007 in sozialistisch anmutender Manier mit 90 Prozent Ja zum Neubau.
Heute lasten das Bettenhaus und die weiteren Bauprojekte als «Anlagenutzungskosten» schwer auf der Rechnung des Triemli. Nielsen, die ihr Amt erst 2010 antrat, beruft sich jeweils darauf, dass man damals noch nicht gewusst habe, dass das Finanzierungssystem auf den Kopf gestellt werde. Tatsächlich hat sich die Situation 2012 mit der Einführung des neuen Spitalfinanzierungsgesetzes grundlegend geändert. Wurden den Spitälern früher aus der Staatskasse ihre Defizite gedeckt und die Investitionen bezahlt, so müssen sie ihre Kosten seither aus der Fallpauschale selbst decken. Dass es so kommen würde, war allerdings schon lange klar. Das eidgenössische Parlament verabschiedete bereits 2007 den nötigen Gesetzesauftrag. Erste Spitäler begannen bereits 2003 damit, sich auf die Neuordnung vorzubereiten.
Bei der Stadt schien derweil das Prinzip Hoffnung eine wichtigere Rolle gespielt zu haben. Zunächst hoffte man auf möglichst hohe Tarife. Als diese dann tiefer ausfielen, zog man gegen den Kanton vor Gericht – und unterlag. Also hoffte man darauf, dass mit dem neuen Bettenhaus die Patientenzahlen stärker zulegen. Doch das taten sie nicht im gewünschten Mass. Wenigstens sollten deshalb die neuen Strukturen mehr Effizienz bringen und damit Einsparungen beim Personal ermöglichen. Doch auch diese Rechnung ging nicht auf: Im September 2016 räumte Nielsen in einer Gemeinderatssitzung ein: «Es wurde zu ehrgeizig budgetiert.» Tatsächlich haben die Personalausgaben von 2014 auf 2016 um 27,6 Millionen Franken zugenommen. Der Ertrag ist in der gleichen Zeit nur um 21 Millionen gewachsen.
All das war aber offenbar kein Grund, die Schönwetter-Budgetierung aufzugeben. Für 2017 wollte das Triemli bei den Restaurantumsätzen um 1 Million Franken zulegen. Stattdessen gingen die Erträge zurück. Der Grund für die Fehlkalkulation: Man hatte nicht gemerkt, dass es im Vorjahr vor allem deshalb gut gelaufen war, weil sich wegen des neuen Bettenhauses viele externe und temporäre Mitarbeiter im Triemli verpflegt hatten.
Es ist nicht so, dass die Stadt alles verschlafen hätte. Im Mai 2015 stoppte der Stadtrat auf Ersuchen der Spitalleitung die Sanierung des alten Bettenhochhauses. Ursprünglich waren dafür 235 Millionen Franken vorgesehen, ein Vorprojekt zeigte dann aber, dass die Kosten eher auf 300 Millionen angewachsen wären. Ohne diese Notbremsung würde das Spital heute noch tiefer in den roten Zahlen stecken. Mittlerweile soll eine abgespeckte Variante für 160 Millionen realisiert werden. Auch gelang es der Spitalführung, bei den Fallkosten vom Ende der Zürcher Rangliste ins Mittelfeld vorzustossen. Das eigentliche Versäumnis ist ein anderes: Die Stadt hat es jahrelang verpasst, dem Triemli eine klare Strategie zu geben und insbesondere darüber zu entscheiden, ob es wirklich klug ist, das Spital als Dienstabteilung zu führen. In der Schweiz gehört es damit zu den absoluten Exoten.
Warnungen überhört
Dabei hatte es im Gemeinderat längst warnende Stimmen gegeben. Im Oktober 2013 reichten die beiden FDP-Gemeinderäte Michael Schmid und Tamara Lauber eine Interpellation ein, in der sie die Organisationsform der Stadtspitäler kritisierten und wissen wollten, in welche Richtung der Stadtrat zu gehen gedenkt. In ihrer Antwort sprach die Stadt von einer «in Entwicklung begriffenen Spitälerstrategie». Man werde zum «gegebenen Zeitpunkt» mehr sagen können. Ein Jahr später, als der Rat die Interpellation diskutierte, war der «gegebene Zeitpunkt» allerdings noch immer nicht gekommen.
Schmid verwies damals auf den Kanton, der seine Auslegeordnung für das Kantonsspital Winterthur (KSW) schon vor anderthalb Jahren gemacht habe. Die Diskussion müsse nun auch in Zürich endlich beginnen. Man könne nicht auf die Erarbeitung einer Spitälerstrategie verweisen, ohne einen konkreten Termin zu nennen. «Die finanzielle Gesundheit der Stadtfinanzen und der Stadtspitäler setzt voraus, dass man eine seriöse Finanzplanung macht», so Schmid im Parlament. Nielsen reagierte darauf, wie sie es in den kommenden Jahren immer wieder tun sollte: Sie verwies auf die schwierige Situation. In der Spitallandschaft sei sehr viel in Bewegung, sagte sie, und man wisse nicht, wie die Situation in zehn Jahren aussehe. «Wir müssen immer handeln, während wir noch denken. Das ist eine ziemliche Kunst», sagte die Ökonomin.
«Nebulöse Strategie»
Immer wieder kündigte die Stadt in den kommenden Jahren die neue Strategie an. Doch es sollte noch bis im März 2017 dauern, bis der Stadtrat endlich erklärte, wie es mit den eigenen Spitälern weitergehen soll. Zu diesem Zeitpunkt stand allen längst das Wasser bis zum Hals.
Der Befreiungsschlag soll mit einer Fusion der beiden defizitären Häuser gelingen – für das Waidspital rechnet die Stadt 2017 mit einem Minus von 9 Millionen. In der Vorlage des Stadtrats ist von Synergien in den Supportbereichen die Rede, von einer Optimierung und besseren Auslastung der Infrastruktur und zielgerichteter Ressourcen- und Investitionsplanung. Trotz der hohen Dringlichkeit gleicht das Papier eher einer Absichtserklärung als einer detaillierten Strategie. AL und FDP kritisierten die Vorlage denn auch als «nebulös». Und auch die Grünen zeigen sich enttäuscht über das Fehlen einer Lösung für das Finanzierungsproblem.
Vor allem hat sich die Stadt noch immer nicht entschieden, welche Rechtsform die beiden Häuser künftig haben sollen. Zwar räumt man mittlerweile ein, dass die Einbindung in die Verwaltung Nachteile bringt – auch finanzieller Natur. Besonders eilig scheint es der Stadtrat mit der Lösung des Problems gleichwohl nicht zu haben: Man wolle die «kommende Zeit» für eine «vertiefende Betrachtung» nutzen, heisst es in der Vorlage. Zum Vergleich: Das Kantonsspital Winterthur wurde schon 2007 in eine öffentlichrechtliche Anstalt umgewandelt. Und dem Spital, das gleich viele Patienten behandelt wie das Triemli, geht es bestens. Im vergangenen Jahr machte es einen Gewinn von rund 30 Millionen Franken. Auch das KSW baut derzeit einen Ersatzneubau für rund 350 Millionen. Die Spitalführung sei überzeugt, dass das Spital diese Belastung werde tragen können, heisst es auf Anfrage. Man habe einen genauen Businessplan erstellt, den der Kanton auch von unabhängiger Stelle habe prüfen lassen.
Während andere Spitäler ihre Investitionen selbst tragen, widmet der Zürcher Stadtrat in seiner Vorlage ein längeres Kapitel dem Schuldenschnitt. Selbst auf bürgerlicher Seite macht man sich darüber allmählich Gedanken. FDP-Gemeinderat Michael Baumer sagt jedoch auf Anfrage, dass ein Schuldenschnitt für die FDP nur dann zum Thema werde, «wenn die Stadt eine klare Strategie vorlegt, wie die finanziellen Probleme gelöst werden sollen, und wenn das Triemli aus der Stadtverwaltung ausgegliedert wird». Das Ganze bleibe aber zweifellos eine äusserst unschöne Geschichte. Ein Schuldenschnitt belohnt letztlich die Fehlplanungen. Die Konkurrenzspitäler, die ihre Investitionen selbst finanzieren müssen, dürften daran wenig Freude haben.
Stadträtin Claudia Nielsen: «Haben getan, was wir konnten»
Auf die Fragen der NZZ zur Situation der Stadtspitäler Triemli und Waid nahm Gesundheitsvorsteherin Claudia Nielsen schriftlich Stellung. Durch den Systemwechsel 2012 habe sich die Situation grundlegend geändert. Investitionsbeträge, die vorher «à fonds perdu» ausgerichtet worden seien, seien plötzlich zu Schulden geworden. Für beide Häuser beliefen sich diese heute auf rund 800 Millionen Franken. Davon macht das neue Bettenhaus einen substanziellen Teil aus. «Es wäre undenkbar – und auch teurer – gewesen, dieses Projekt 2012 noch zu stoppen. Wo wir handeln konnten, da haben wir es getan», schreibt Nielsen. So habe man die Reissleine bei der Sanierung des alten Bettenturms gezogen. Diese soll nun deutlich günstiger werden. Die Frage nach einem Schuldenschnitt solle bis 2020 beantwortet sein. Mit Blick auf ähnliche Spitäler sei eine Eigenkapitalquote von 60 Prozent ein guter Referenzwert. «Der Schuldenschnitt müsste demnach bei den aktuellen Schulden der beiden Stadtspitäler rund 500 Millionen Franken entsprechen», schreibt Nielsen. Zusammen mit künftigen Ertragsüberschüssen seien die fusionierten Spitäler damit künftig wieder fähig, grössere Investitionen aus eigener Kraft zu tragen.
Quelle: NZZ